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"Wellenreiten"

Für E. 

Dafür, dass du mich seit Tag eins durch meine vertraute Dunkelheit begleitest.

Am sonnigsten Tag der Woche lagen wir am Strand.
Nur du und ich und eine Flasche Wein. Wir beide, ganz allein. Keine Menschenseele, weit und breit.
Ich in deinen Armen. 

Der Himmel erstrahlt im Abendrot der tief stehenden Sonne. Der Wind trägt die Wellen in das weite Meer hinaus. Du siehst mich aus deinen großen, wunderschönen, grün-grauen Augen an und lächelst.

Für einen Moment, einen klitzekleinen Augenblick scheint alles perfekt.
Der Stress des Alltags spielt keine Rolle mehr. Für den Bruchteil einer Sekunde ist es egal wer wir sind und wer wir waren. Alles was zählt, ist, dass wir sind. Nur wir beide. Du und ich. 

Auf einmal verstehe ich, was du bist. Was du immer warst.
Du warst mein Rettungsring, der mich aus dem Wasser zog, als ich zu ertrinken drohte. Mein Anker, der mich festhielt, als ich fliehen wollte. Das Licht in der Dunkelheit, das dafür sorgte, dass ich sicher am Hafen ankam.
Das warst du schon immer.
Ich wollte es nur nicht wahrhaben.

Ich war so stur, dass ich mir einredete, dass du mich ins Wasser geschmissen und in die Flucht geschlagen hast.
Ich glaubte, du nahmst mir das Sonnenlicht.
Dabei war ich es.
Ich sprang selbst ins Wasser, schlug mich selbst in die Flucht und nahm mir mein eigenes Sonnenlicht.

Ich konnte es nicht sehen.
Ich wollte es nicht sehen.
Ich stand mir selbst im Weg.
Du leuchtetest mir den Weg durch die Finsternis. 

Ich hatte Angst.
Ich hatte noch nie zuvor die andere Seite gesehen.
Du begleitetest mich auf der gesamten Reise.
Du hieltest mich fest, wenn ich weglaufen wollte, zogst mich aus dem Wasser, als ich zu ertrinken drohte und zeigtest mir den Weg bis zum nächsten Hafen.

Selbst wenn ich strampelte und zappelte, in die Dunkelheit rannte, ließt du mich nicht fallen, leuchtetest mir den Weg.
Auch wenn das bedeutete, dass ich dich unter die Wasseroberfläche drückte, in der Dunkelheit stehen ließ.
In meiner Dunkelheit. 

Es war nicht deine Entscheidung - das, was du dir vorgestellt hast, aber du kämpftest dich immer und immer wieder zurück nach oben - stolpertest durch die unendlich scheinende Finsternis zurück ins Licht. Zurück zu mir. 

Du gabst nicht auf. So sehr ich auch versuchte dich abzuhängen.
So sehr ich auch versuchte mich in meiner vertrauten Dunkelheit zu verstecken - vor dir wegzulaufen.
Du bliebst bei mir, auch wenn du wusstest, dass es alles andere als einfach werden würde.
Du gabst mir das, was ich schon lange in der Finsternis verlor.
Hoffnung.
Jeden Tag aufs Neue.

Du gabst mir das Gefühl, nicht nur die Wellen reiten zu können, sondern auch noch in der Lage dazu zu sein, diese zu kontrollieren.

Du gabst mir so unendlich viel, selbst als ich dir nichts geben konnte. Als ich glaubte, nie wieder irgendetwas geben zu können. Du gabst mir so unglaublich viel Kraft, selbst an Tagen, an denen ich versuchte dich abzuschütteln bis deine Beine unter dir nachgaben.
An Tagen, an denen ich dir deine letzten Kräfte raubte. 

Du öffnetest mir die Augen und deutetest auf den wunderschönen Sternenhimmel, der sich über uns erstreckte, als ich den Blick nur auf den Abgrund und die endlose Tiefe unter mir fixiert hatte.
Du zeigtest mir all die schönen Dinge, für die sich der steinige Weg nach unten lohnen würde, als ich nur die negativen Dinge wahrnahm und kurz davor war den einfachsten Ausweg zu nehmen. - Den Sprung in die Tiefe, von dem ich wusste, dass ich ihn nicht überleben würde.

Du nahmst mich bei der Hand und mir wurde klar, dass es nicht mehr nur um mich ging, sondern um uns. 

Würde ich springen, würde ich dich mit ins Verderben ziehen. Genauso wusste ich, dass ich den steinigen Trampelpfad nicht alleine hinabstolpern müsste, da du mich auffangen würdest, würde ich stürzen. Und wenn nicht, dann stürzten wir eben gemeinsam. 

Da waren wir nun. Am Ende des Pfads, am sonnigsten Tag der Woche, am schönsten Sandstrand, den man sich hätte erträumen können. 

Nur du, ich, eine Flasche Wein und der Sonnenuntergang, der alles in einem rosa-rot erstrahlen ließ. Alles, außer deine bezaubernden grün-grauen Augen, mit denen du mich in deinen Bann zogst und einen Augenblick lang alles vergessen ließt.
Auf einmal schien alles perfekt. 
Alles schien so leicht zu sein. 
Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich diese Leichtigkeit, von der du mir immer erzähltest. 
Denn mit dir war ich frei.
Mit dir musste ich nicht springen.
Ich konnte fliegen.


Corinna Klein